«Wir sind die 99 Prozent!» – unter diesem Motto erreichte am 15. Oktober 2011 eine beispiellose Protestbewegung ihren Höhepunkt. Einen Monat später war alles vorbei. Warum? Mit Micah M. White, dem Chefstrategen von «Occupy», sprach Hannes Grassegger.
Vor genau vier Jahren erreichte «Occupy Wall Street» ihren Höhepunkt. Tausende demonstrierten gegen die Macht des Kapitals und campierten erst im New Yorker Zuccotti Park, dann in allen grösseren amerikanischen und vielen europäischen Städten, bis die Polizei die Camps zum Teil gewaltsam räumte. Die spektakulären Besetzungen schienen aus dem Nichts gekommen zu sein. Erst als sich der Nebel aus Tränengas und Falschmeldungen gelichtet hatte, stellte sich heraus, dass dahinter zwei Leute standen, Kalle Lasn und Micah White, die die Bewegung und ihre Strategie präzise geplant hatten. White hat das Scheitern der Occupy-Bewegung analysiert und seine Lehren daraus gezogen.
Das Magazin — Wie fühlt sich das an, wenn man glaubt: Jetzt ist Revolution! Und dann wird es nichts?
Micah M. White — Das Ende von Occupy war schmerzhaft. Als ich einsah, dass der entscheidende revolutionäre Moment vorbei war, gab ich alles auf und versuchte, das Beste daraus zu machen. Ich kündigte meinen Job, zog aufs Land, gründete eine Beratungsagentur für Widerstandsbewegungen und begann, ein Buch über die Zukunft des Widerstands zu schreiben.
Warum scheiterte Occupy?
Es war kein totaler Fehlschlag. Es hat die Diskussion in Amerika verändert, beispielsweise zu Einkommensunterschieden. Es hat auch eine neue Generation von Aktivisten hervorgebracht und Nachfolgebewegungen wie «Black Lives Matter», die sich gegen behördlichen Rassismus einsetzt. Ich nenne Occupy einen konstruktiven Fehlschlag.
Was war daran konstruktiv?
Dass wir etwas lernen konnten: Occupy schlug fehl, weil wir einer falschen Annahme darüber folgten, wie man im 21. Jahrhundert sozialen Wandel schafft. Das falsche Rezept für Protestbewegungen lautet: Bringe Millionen von Menschen auf die Strasse, lasse sie eine klare Forderung formulieren – und dann werden die Volksvertreter zuhören. Diese Annahme ist der grösste Fehler des heutigen Aktivismus.
Ihr Buch, das im kommenden März erscheinen wird, heisst «The End of Protest». Sie sagen, der Protest sei tot. Wann ist er denn gestorben?
Eigentlich schon am 15. Februar 2003, bei den weltweiten Märschen gegen den Irakkrieg. Millionen gingen auf die Strasse, rund um die Welt. Als Reaktion darauf sagte George W. Bush nur: «Ich beuge mich keiner Interessengruppe.» Das war der Moment, in dem sich zeigte, dass Grossdemonstrationen Regierungen nicht zum Zuhören zwingen können.
In Ägypten, Libyen und Syrien wäre es also besser gewesen, wenn die Menschen gar nicht erst auf die Strasse gegangen wären?
Nein, das nicht. Denn wie sie geschafft haben, was sie erreichten, und auch aus dem, was sie nicht erreichten, kann man eine Menge lernen.
Nämlich?
Die erste Lektion ist: Eine erfolgreiche Bewegung entsteht, wenn die Leute aufhören, Angst zu haben. Durch eine Art kollektive Erleuchtung oder Stimmung, die sich verbreitet. Der Arabische Frühling wurde losgetreten durch den dramatischen Märtyrerakt eines tunesischen Obsthändlers, der sich verbrannte. Das löste eine kollektive Leidenschaftlichkeit aus, und die Leute verloren ihre Furcht. Die zweite Lektion: Man kann keine Protestbewegung mit dem Ziel entwerfen, gewählte Volksvertreter zu beeinflussen. Du kannst Millionen auf der Strasse haben, aber Politiker müssen einfach nicht zuhören. Die dritte Lektion: Man muss nicht nur die Regierung stürzen, sondern anschliessend auch die Regierung stellen.
Uns in der Schweiz geht es eigentlich ganz gut. Wozu sollten wir eine Revolution brauchen?
Das ist das Kernproblem in der entwickelten Welt. Der erste Schritt zur Revolution ist ein inneres Erwachen. Ein Verständnis davon, dass die Lage in Wahrheit gar nicht gut ist. Dass die Zukunft düster ist, wenn wir so weitermachen. Und dass sich das alles nicht anders als durch eine Revolution lösen lässt. Es beginnt mit einem Erwachen.
Woraus sollen wir denn erwachen? Die vage Behauptung, dass der Untergang droht, wenn alles so weitergeht wie bisher, überzeugt mich nicht.
Die apokalyptische Drohung vieler linker und vor allem der Ökobewegungen, dass wir am Rande der Katastrophe stehen, zieht nicht mehr. Das stimmt. Aber Sie können nicht leugnen, dass wir ganz real vor einer Reihe gewaltiger Probleme stehen, seien es der Klimawandel, die enormen Einkommensunterschiede, Pandemien oder die Flüchtlingskrise. Um diese Krisen zu bewältigen, brauchen wir eine gemeinsame Kreativität – die im derzeitigen Konsumkapitalismus einfach nicht da ist. Wirklich falsch läuft in meinen Augen auch etwas auf einer spirituellen Ebene. Eine Art Unterdrückung unserer Kreativität.
Das müssen Sie erklären.
Als ich zum Höhepunkt von Occupy Wall Street mit meiner Frau nach Oakland kam, um gegen die Räumung des Hafens zu protestieren, standen dort 30 000 Leute. Sie waren wunderschön. Jeder hatte leuchtende Augen. Jeder war glücklich und strahlte und teilte sein Essen mit anderen. Es war ein Moment gemeinsamer Erleuchtung.
Es geht Ihnen gar nicht um die Systemveränderung?
Ich glaube, dass spirituelle Gründe mindestens genauso wichtig für eine Bewegung sind, wenn nicht wichtiger. Spiritualität ist eine Stärke. Heute sind die Regierungen materiell gut ausgerüstet mit Armee und Polizei, aber spirituell sind sie schwach.
Sind Revolutionen per se gut?
Nein, es gab negative Revolutionen. Den Faschismus etwa. Revolutionen sind immer gefährlich. Gleichzeitig ist Wandel notwendig, damit wir unsere Probleme bewältigen können und um auf ein höheres zivilisatorisches Level zu gelangen.
Muss es denn immer gleich der Umsturz sein? Könnten wir nicht einfach langsam unsere Werte und Einstellungen ändern? Vorhin erwähnten Sie doch die spirituellen Grundlagen der Revolution.
Das ist ein Weg. Bei der Revolution aber geht es darum, die Welt grundsätzlich zu ändern. Es gibt verschiedene Modelle, wie die Revolution beginnt. Weg eins: Der einzelne Mensch wird aktiv, um objektiv etwas zu ändern. Weg zwei: Die Revolution wird von aussen ausgelöst. Beispielsweise liessen rekordhohe Essenspreise den Arabischen Frühling entstehen. Das Modell, das Sie erwähnt haben, ist das subjektivistische: Wenn ich die Welt anders sehen kann, dann ändert sie sich für mich. Das Problem am Subjektivismus ist aber, dass man die Welt um sich herum nicht ändert.
Sie haben kürzlich gesagt: «Der beste Aktivismus ist jener, der das tut, wovor wir uns am meisten fürchten.» Wie ist das gemeint?
Es ist ein Denkfehler, dass man die Leute für die Revolution da abholen sollte, wo sie sich am wohlsten fühlen. Man lässt sie einen Link klicken oder eine Petition unterschreiben und glaubt, dass sie sich auf diese Weise radikalisieren. Das ist komplett falsch. Bei Occupy und im Arabischen Frühling haben wir gelernt, dass Mut ansteckend ist. Wenn Menschen andere Menschen bei mutigen Taten sehen, andere ihr Leben riskieren sehen, das lässt sie aufwachen. Um eine Bewegung zu entfachen, muss man Leute dazu bringen, Dinge zu tun, die sie am meisten fürchten – und dabei andere zusehen lassen. Man muss mit den schwierigsten Sachen anfangen, nicht mit den leichtesten.
Sie haben öffentlich gesagt, Gewaltanwendung könne nützlich sein.
Das ist das heikelste Thema. Ich lehne Gewalt ab, die Geschichte zeigt jedoch, dass sie kurzfristig etwas bringen kann. Langfristig aber frisst Gewalt die Revolution auf. Das zeigt sich von Che Guevara bis zur RAF.
Spirituelle Erweckungen, demonstrative Taten, Gewalt – das erinnert ein wenig an die Strategien des Islamischen Staates...
ProJihadisten sind natürlich kein Vorbild. Aber das weltweite Kalifat, diese Idee, dass ein gemeinsames Ideal die Regierungspolitik mehrerer Länder steuert, scheint im 21. Jahrhundert sehr kraftvoll und überzeugend zu sein. Das Morden ist grauenvoll, aber, nüchtern betrachtet, haben die Jihadisten eine enorm erfolgreiche Strategie verfolgt.
Dafür stehen Sie in Kontakt mit europäischen Protestparteien. Was wollen Sie von ihnen lernen?
Mich interessiert Movimento Cinque Stelle (M5S) als ein Beispiel für die Verschmelzung einer horizontalen Bewegung mit einer vertikalen, organisierten Partei. Sie haben eine elektronische Lösung dafür gefunden, Entscheidungen innerhalb der Bewegung zu treffen, eine Plattform für digitale Demokratie. Cinque-Stelle-Aktivisten können Leute bestimmen, die sie zur Wahl stellen. Bei Occupy Wall Street hatten wir gerade mal eine Reihe festgelegter Handzeichen, um besser diskutieren zu können.
Elektronische Plattformen sind aber auch optimal für die Regierung. Man kann Revolutionen einfach ausknipsen.
Stimmt. Die Infrastruktur des Internets gehört nicht uns. Wir können dem Netz nicht vertrauen. Gleichzeitig hat es uns geholfen, eine Stimmung zu verbreiten, die Menschen zum Demonstrieren brachte. Und wir konnten Taktiken verbreiten. Wenn in der Schweiz eine neue Protestmethode entwickelt wird, ist sie innerhalb von 24 Stunden in den USA.
Edward Snowden ist jetzt auf Twitter, er hat innerhalb weniger Tage über eine Million Follower. Ihnen ist der Twitter-Account abgestellt worden während Occupy.
Ja. Ich hatte beim Protest gegen die Nutzungsbedingungen von Twitter verstossen. Ich hatte eine Telefonnummer getweetet.
Also die Revolution besser doch ohne Internet organisieren?
Wir brauchen das Netz. Man muss schnell sein. Erfolgreiche Protesttaktiken funktionieren nur so lange, bis die Gegner ein Gegenmittel gefunden haben. Die Revolution von 1848 in Deutschland war so lange erfolgreich, bis die Regierungsgewalt ein Mittel fand, die Barrikaden der Revolutionäre aus dem Weg zu räumen. Die Pariser Kommunarden von 1872 konnten diese Taktik dann nicht mehr verwenden. Man kann nie zweimal auf die gleiche Art erfolgreich protestieren. Das Problem bei Occupy war beispielsweise, dass die Taktik, also das Besetzen von Plätzen, gleichzeitig der Name der Bewegung war. Sobald die Regierungen ein Mittel gegen die Okkupationen gefunden hatten, war Schluss mit Occupy. Ich schätze die Halbwertszeit von Protesttaktiken auf ungefähr vier Wochen.